Ramona Koch


Als es am 16. März 2020 zum ersten Lock Down kam, war mir zuerst überhaupt nicht bewusst, dass dieser Zustand für obdachlose Menschen ein Schlag ins Gesicht bedeutet. Ich habe zwei Tage gebraucht, um mir dieses bewusst zu machen.

 

Dann habe ich privat Masken bestellt, damit die Menschen überhaupt im Penny Markt einkaufen können. Ich glaube, nicht nur die obdachlosen Menschen, sondern auch wir waren mit der neuen Situation komplett überfordert.

 

Viele Obdachlose kommen jeden Morgen zur Öffnungszeit in den Laden, geben ihre Pfandflaschen ab und kaufen sich dann, meist Alkohol. Jeden Tag sehen wir die gleichen Gesichter, nun aber sahen wir sie vollkommen hilf- und ratlos.

 

Die ausländischen Obdachlosen haben überhaupt nicht verstanden, was passierte. Aufgrund der Sprachschwierigkeiten war es schwer für uns, ihnen die neuen Corona Regeln (Masken, Abstand etc.) deutlich zu machen. Es war für uns aber sofort klar, dass der Penny Markt unter allen Umständen für diese Menschen geöffnet bleibt.

 

Unsere Bünabes, Thomas Tessmann und Udo Lütje, waren täglich unterwegs und haben uns und auch die obdachlosen Menschen informiert. Die Presseberichte haben wir auch an die obdachlosen Menschen weitergegeben. Es gab endlose Diskussionen, denn sie konnten, genau wie wir, überhaupt nicht verstehen, warum ihre Anlaufstellen hier auf der Reeperbahn alle geschlossen waren.

 

Das CaFée mit Herz, eine Tagesstätten-Einrichtung im alten Hafenkrankenhaus, war jedoch durchgehend geöffnet und mit dem dortigen Leiter, Jan Marquardt, konnten wir uns austauschen und so Informationen an die Obdachlosen weitergeben.

 

Alle Kneipen, alle Restaurants hatten geschlossen und so entfiel für die obdachlosen Menschen auch die Möglichkeit, dort die sanitären Einrichtungen zu nutzen. Es war schlimm zu sehen, wo und wie die Menschen sich Orte und Plätze suchen mussten, um ihre Notdurft verrichten zu können. Händewaschen, Duschen war überhaupt nicht möglich. Ein unglaublicher Zustand.

 

Durch fehlende Pendler, die hier auf der Reeperbahn arbeiten und nun im Home-Office waren sowie die ausbleibenden Touristen bekamen die Obdachlosen auch kein Geld mehr in ihre Betteltöpfe. Sie hatten keine Anlaufstellen mehr und auch kein Geld, um sich selber zu versorgen. Das war eine ganz schlimme Situation für sie.

 

Die Verordnungen, die seitens der Sozialbehörde erlassen wurden, waren nach meinem Empfinden für die Menschen hier oftmals eher unsinnig. Der Alkoholkonsum auf der Straße wurde verboten, aber die Obdachlosen auf der Straße waren doch dort in ihrem „Zuhause“. Wie soll man ihnen da den Konsum verbieten? Zumal viele von ihnen auch suchtkrank sind.

 

Als das Verkaufsverbot von Alkohol an Freitagen und Samstagen ab 20 Uhr erlassen wurde, gab es wieder viel Diskussionsbedarf. Die obdachlosen Menschen konnten auch an Kiosken nichts mehr erwerben, auf Vorrat zu kaufen ging meist aufgrund von fehlendem Geld nicht und mit einer Suchtkrankheit sechs oder sieben Stunden ohne Alkohol sein zu müssen, war für viele hier recht finster.

 

Die Solidarität aber, die während dieser Zeit entstanden ist, war aber einfach toll. Menschen hielten auf der Reeperbahn und haben aus ihren Autos heraus Lunchpakete an die Obdachlosen verteilt. Das war beispielhaft.

 

Der Wirt vom Elbschloss Keller, Daniel Schmidt, hat seine Kneipe, die er schließen musste, kurzer Hand in eine Essens- und Kleidungsausgabestelle für Obdachlose und Bedürftige umfunktioniert. Der Koch vom Hidden Kitchen hat jeden Mittag eine warme Mahlzeit gekocht.  Das war ein richtiger Lichtblick für diese Menschen. Menschen kamen in Massen, um Lebensmittel- und Kleiderspenden abzugeben. In Absprache mit meinen Chefs haben wir die Ware, die nicht mehr verkaufsfähig war, an den Elbschloss Keller gegeben und konnten somit diese tolle Aktion unterstützen. Ich selber habe an Daniel einen Gutschein im Wert von 100 Euro übergeben und auch unsere Filiale hat Daniel zusätzlich mit einem Wertgutschein in Höhe von 100 Euro unterstützt.

 

Viele Vereine fingen an, Lebensmittelgutscheine an obdachlose Menschen zu verteilen, so dass sie selbstbestimmt ihren Lebensbedarf decken konnten. Auch das war eine große Hilfe für diese Menschen.

 

Ich selber habe Brötchen und Würstchen gekauft und diese verteilt, damit die Menschen, deren körperlicher Zustand eh nicht zu den besten gehört, etwas zum Essen hatten. Im Sommer habe ich mir dann überlegt, wie der Flüssigkeitsbedarf der Menschen am besten gedeckt werden kann. Ich habe dafür Wassermelonen eingekauft, klein geschnitten und in Schälchen verteilt. Hätte ich ihnen kleine Wasserflaschen gegeben, hätten sie das Wasser vielleicht ausgegossen um schnell an das Pfandgeld für die Flaschen zu kommen.

 

Heute ist für viele die Pandemie zum Normalzustand geworden. Die Einrichtungen haben ihren Alltag umgestellt, Masken sind „normal“ geworden und die Abstandsregelungen werden meistens auch befolgt. Die vielen obdachlosen Menschen gehen mit der Pandemie weitaus entspannter um als wir.

 

Was ich mir für die Zukunft wünsche? Ich wünsche mir, dass die neu entdeckte Solidarität beibehalten wird. Wenn nur eine Handvoll Menschen so weitermacht, wie während der Pandemiezeit, dann wäre vielen Menschen hier geholfen.